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Während wir unseren Eltern die Schuld geben – verehren andere Kulturen sie bedingungslos

Ein persönlicher und philosophischer Blick auf Elternschuld, Bindung und kulturelle Prägung


Kürzlich saß ich mit jemandem aus einem anderen Kulturkreis im Auto. Wir sprachen über Familie, Kindheit, über all das, was einen prägt – und ich erzählte, dass ich im Rahmen meiner eigenen psychologischen Arbeit viel über die Beziehung zu meinen Eltern reflektiert habe. Ich habe keine Schimpfwörter benutzt, niemanden schlechtgeredet – ich habe einfach analysiert, wie bestimmte Dynamiken entstanden sind, wie Bindung funktioniert hat oder auch nicht.


Doch mein Gegenüber war fassungslos.

Er sagte: „So würde ich nie über meine Eltern sprechen.“


In diesem Moment wurde mir klar, wie tief kulturelle Unterschiede wirken: Für ihn stand völlig außer Frage, dass Eltern – egal was sie getan oder versäumt haben – mit Respekt, ja fast mit Ehrfurcht betrachtet werden. Und ich dachte: Wie großartig, aber auch wie begrenzend. Denn was, wenn ein Mensch in einem solchen System nie die Möglichkeit bekommt, seine Eltern kritisch zu betrachten – selbst wenn dort Wunden entstanden sind?


Dieser Moment hat mich nicht mehr losgelassen. Warum ist es in unserer westlichen Welt so normal, die Eltern zu „analysieren“, während in anderen Kulturen schon der Gedanke daran als respektlos gilt? Und was bedeutet das für Heilung, Bindung, persönliche Entwicklung?


Elternschuld – ein westliches Narrativ?

In Coaching- und Therapiekontexten, in Podcasts, Büchern oder auf Social Media ist es fast schon Alltag: Wenn Menschen Schwierigkeiten mit Nähe, Selbstwert oder Vertrauen haben, geht der Blick automatisch in die Kindheit. Wie war deine Beziehung zu deinen Eltern? – eine Standardfrage in jeder Sitzung.


Das hat gute Gründe. Bindungspsychologisch wissen wir: Die frühen Jahre prägen unsere inneren Arbeitsmodelle, also wie wir Beziehungen erleben, wie wir mit Konflikten umgehen, wie wir uns selbst sehen. Und natürlich sind Eltern oder Bezugspersonen in dieser Zeit die entscheidenden Akteure.


Doch während diese Perspektive in westlichen Gesellschaften fast selbstverständlich geworden ist, löst sie in anderen Teilen der Welt oft Irritation oder gar Unverständnis aus.


Kollektivistische vs. individualistische Kulturen

Der Kernunterschied liegt in den Werten: Individualismus und Kollektivismus.


In individualistischen Gesellschaften – wie den meisten westlichen Ländern – steht das Ich im Mittelpunkt. Persönliche Entfaltung, Selbstverwirklichung, das „eigene Leben leben“. Wenn dabei etwas im Weg steht, suchen wir nach Ursachen – häufig in der Vergangenheit, bei den Eltern.


In kollektivistischen Kulturen dagegen ist das Wir zentral. Familie bedeutet Zugehörigkeit, Loyalität, Ehre. Eltern sind nicht in erster Linie psychologische Figuren, sondern Träger von Identität und Würde. Kritik an ihnen würde die eigene Position im Familiensystem infrage stellen – und das tut man schlicht nicht.


Ich erinnere mich an den Blick meines Gesprächspartners im Auto: nicht empört, sondern verwundert. Für ihn war klar – Eltern sind unantastbar.


Psychologie und Bindungstheorie: Warum der Westen hinschaut

Die moderne Psychologie – von Sigmund Freud bis John Bowlby und Mary Ainsworth – hat Elternbeziehungen ins Zentrum des Verständnisses von Persönlichkeit gestellt.

Nach Bowlby formen frühe Bindungserfahrungen unsere emotionale Landkarte: ob wir Sicherheit oder Angst empfinden, Nähe zulassen oder vermeiden, Vertrauen entwickeln oder Kontrolle suchen.


Alice Miller ging noch weiter: Sie beschrieb, dass selbst „normale“ Erziehung, wenn sie Empathie und emotionale Wahrhaftigkeit vermissen lässt, tiefe seelische Wunden hinterlassen kann.

Die „aufgeklärte“ Selbstreflexion über Eltern wird so fast zum moralischen Akt – als Schritt in Richtung Heilung.


Doch Kritiker wie Judith Rich Harris (Autorin von The Nurture Assumption) mahnen: Vielleicht überschätzen wir den Einfluss der Eltern. Vielleicht formen Peers, Kultur, Gesellschaft und Biologie uns weit stärker, als wir wahrhaben wollen.


Zwischen Philosophie, Ethik und Dankbarkeit

Philosophisch betrachtet ist die Elternfrage eine der tiefsten ethischen Fragen überhaupt.

Wie weit reicht Verantwortung? Wann wird aus Verantwortung Schuld? Und wie lässt sich Dankbarkeit denken, ohne Blindheit gegenüber realen Verletzungen?


Im Islam etwa gilt die Achtung vor den Eltern als göttliches Gebot – selbst wenn sie Unrecht tun. Im Christentum heißt es: „Du sollst Vater und Mutter ehren.“

Diese Gebote formen kollektive Moralstrukturen, die nicht einfach von Psychologie aufgebrochen werden können.


In der modernen westlichen Philosophie hingegen hat sich ein Gegenpol entwickelt: die Idee des autonomen Subjekts. Der Mensch darf – ja, soll – seine Herkunft kritisch reflektieren, um frei zu werden. Freiheit bedeutet hier, sich von unbewussten Prägungen zu lösen.


Der therapeutische Blick: Heilung statt Schuld

Wenn in der Therapie über Eltern gesprochen wird, geht es – zumindest idealerweise – nicht um Anklage, sondern um Bewusstwerdung.

Nicht: Meine Eltern sind schuld,

sondern: Das war meine Erfahrung, und sie wirkt bis heute.


Diese Differenz ist entscheidend.

Denn wer ausschließlich im Schuld-Narrativ bleibt, bleibt gebunden – diesmal nicht an reale Eltern, sondern an innere Bilder von Schuld und Opfersein.


Heilung bedeutet, beides halten zu können: zu verstehen, dass etwas wehgetan hat, und gleichzeitig anzuerkennen, dass Eltern meist selbst Produkte ihrer Prägung sind.


Und doch bleibt die kulturelle Frage

Ich frage mich oft: Wie sähe Heilung in Kulturen aus, in denen Elternkritik tabu ist?

Ist Schweigen dort eine Form von Loyalität – oder eine Form der inneren Erstarrung?

Und umgekehrt: Ist unsere westliche Offenheit immer hilfreich – oder manchmal auch eine neue Form von Entwurzelung, in der Achtung und Zugehörigkeit verloren gehen?


Vielleicht liegt die Wahrheit dazwischen. Zwischen Ehrfurcht und Analyse, zwischen Tradition und individueller Freiheit.


Einladung zur Reflexion

Mich interessiert:

Wie siehst du das?

Aus welchem kulturellen Hintergrund kommst du – und wie hast du gelernt, über deine Eltern zu sprechen?


Denkst du, dass viele unserer heutigen Themen – Bindung, Selbstwert, Beziehungen – wirklich aus der Kindheit stammen?

Oder glaubst du, dass wir zu sehr in dieser Elternschuld-Erzählung hängen, während andere Kulturen längst etwas verstanden haben, das wir verloren haben: die tiefe Ehrung derer, durch die wir überhaupt erst hier sind?


Schreib mir gern in die Kommentare oder auf Instagram, wie du das siehst – ob du die Elternfrage eher als Wurzel oder als Ablenkung empfindest.

Ich bin gespannt auf eure Perspektiven

 
 
 

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